EU-Politik

01.08.2022

Tierärztemangel, Ukraine-Krieg...

Frühjahrstagung der europäischen Tierärzteverbände in London

Frühjahrstagung 2022

Vom 16. bis 18. Juni 2022 fanden die Frühjahrstagungen des Europäischen Praktikerverbands Union of European Veterinary Practitioners (UEVP) und des Dachverbands Federation of Veterinarians of Europe (FVE) in London statt. Eigentlich hatten die beiden britischen Tierärzteverbände Royal College of Veterinary Surgeons (RCVS) und British Veterinary Association (BVA) schon im Frühjahr 2020 die Gastgeberrolle übernehmen wollen. Das erste komplett „analoge“ Treffen seither musste indes über zwei Jahre verschoben werden. Ein Wermutstropfen blieb: Mehrere Delegierte zahlten für das persönliche Treffen den Preis einer anschließenden Covid-Infektion. Den bpt vertraten auf den beiden Sitzungen Präsident Dr. Siegfried Moder, die 1. Vizepräsidentin Dr. Petra Sindern, Geschäftsführer Heiko Färber und Europareferentin Gabriele Moog.

Praktiker-Tagung

Der erste Sitzungstag gehört stets den Sektionen, beim bpt also der UEVP. Die Agenda bestimmten das EU-Tierarzneimittelrecht und das Tiergesundheitsgesetz mit ihren Folgerechtsakten, der Krieg in der Ukraine in seiner Auswirkung auf die Tierärzteschaft, der Arbeitskräftemangel, Finanzfragen, Aus- und Weiterbildung sowie Tierschutzthemen. In seinem Tätigkeitsbericht betonte UEVP-Präsident Piotr Kwieciński erfreut die wiederkehrenden Möglichkeiten zu echten Begegnungen.

Bestandsbesuche/AHL

Der Verankerung der Bestandsbetreuung im EU-Tiergesundheitsgesetz (Art. 25) war ein eigener Themenblock als „heißes Eisen“ („hot topic“) gewidmet. Ergebnisse einer europaweiten Umfrage wurden präsentiert, ergänzt durch praktische Beispiele aus Frankreich und Skandinavien. Insgesamt zeigt sich in Europa weiter ein gemischtes Bild von teils freiwilliger, teils verpflichtender Bestandsbetreuung in unterschiedlichen Frequenzen und Intensitäten. Obwohl für alle Spezies wünschenswert, blieben die Bestandsbesuche überwiegend auf Schweine, Rinder und Geflügel beschränkt. bpt-Präsident Moder gab Einblick in ein bayrische Pilotprojekt. Dabei geht es vor allem um problematische Höfe, denen eine Supervision an die Seite gestellt wird. Dank finanzieller Unterstützung durch das Ministerium wurden u.a. die Förderungen für den neuen Master-Studiengang für Tierärzte ermöglicht.

Leider steht die Implementation der in Art. 25 hart erkämpften Vorgaben seitens der EU-Kommission noch immer aus. Die europäischen Dachverbände setzen sich für eine rasche Sekundärgesetzgebung ein, um die stärkere Vereinheitlichung zu beschleunigen. Begrüßenswert ist zudem das erklärte Ziel der Kommission, nicht Amtsveterinäre, sondern Praktiker mit der Bestandsbetreuung zu betrauen.

Der Krieg kommt nahe

Als eine kleine Delegation aus der Ukraine das Wort ergriff, wurde es still im Tagungsraum. Ein hochemotionaler Moment – die Kollegen kämpften mit den Tränen, als sie der Versammlung begreiflich zu machen versuchten, was in ihrer Heimat vor sich geht. Die Fotos und bestürzenden Beschreibungen machten sprachlos. Eben noch engagierte Tierärzte in einem modernen europäischen Land, jetzt Flüchtlinge in Sorge um ihre Liebsten, kaum noch fähig, ihren Beruf auszuüben stehen sie buchstäblich vor den Trümmern ihrer Existenz. Ähnlich erschütternd waren die Berichte von Oksana Rud, der Präsidentin der Association of Veterinary Specialists of Ukraine, die sich am Freitag bei der Sitzung der FVE mit einer Videobotschaft an die Delegierten wandte.

Zwei Tage Generalversammlung

Die FVE-Delegiertenversammlung fand an den beiden Folgetagen statt. Zur Eröffnung übermittelte die britische CVO Dr. Christine Middlemiss eine Grußbotschaft an die versammelten Kollegen.

EU-Tierarzneimittelverordnung

Der Dauerbrenner unter den Themen der letzten Jahre stand auch bei dieser Sitzung erneut im Fokus: die EU-Tierarzneimittelverordnung (TAMVO) (Verordnung (EU) 2019/6). Auch ein Gastreferent, Dr. Ivo Claassen von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA), sprach zum Thema. Das Hauptaugenmerk liegt aktuell auf dem delegierten Rechtsakt der EU-Kommission über „Kriterien für die Einstufung antimikrobieller Mittel, die für die Behandlung bestimmter Infektionen beim Menschen vorbehalten sind“. Den von der EMA u. a. in Abstimmung mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Weltorganisation für Tiergesundheit (WOAH) nach wissenschaftlichen Kriterien entwickelten Vorschlag hatte das EU-Parlament im Herbst 2021 mit fast 70 Prozent Zustimmung angenommen. Wichtig für uns: In Kriterium C ist verankert, dass Wirkstoffe, die für die Tiermedizin relevant sind, nicht ohne wissenschaftliche AMR-Evidenz verboten werden dürfen. Erst am 23. Juni 2022 hatte das EU-Parlament abermals über einen kurzfristig eingebrachten Einwand per Entschließungsantrag des Umwelt- und Gesundheitsausschusses (ENVI) gegen den Durchführungsrechtsakt zu entscheiden. Die Mehrheit der Abgeordneten bestätigten dabei ihr Votum aus dem Herbst. Damit sollte einem baldigen Inkrafttreten des Durchführungsrechtsakts nichts mehr entgegenstehen, da auch eine Mehrheit der Mitgliedstaaten bereits Zustimmung signalisiert hat.

Zur Einordnung: Die TAMVO schafft als Verordnung seit ihrem Wirksamwerden zum 28. Januar 2022 unmittelbar geltendes Recht in allen EU-Mitgliedstaaten. Die umfangreiche Sekundärgesetzgebung läuft auf Hochtouren; sie manifestiert sich beispielsweise im neuen deutschen Tierarzneimittelgesetz. Der Arzneimittelarbeitskreis der FVE unter Beteiligung von bpt-Präsidiumsmitglied Palzer begleitet die Entwicklungen.

Finanzen im Fokus

bpt-Präsident Moder lieferte als FVESchatzmeister einen umfassenden Überblick zu Budget und Finanzen der Organisation. Die kritische Finanzsituation im Spannungsfeld von Covid, Umzug der FVE-Geschäftsstelle, Inflation und Kriegsfolgen erforderte eine ausführliche Aussprache, denn es besteht die dringende Notwendigkeit zur Anpassung der Verbandsbeiträge. Naturgemäß ist das Thema heikel, denn auch in den einzelnen Mitgliedsverbänden spitzt sich die wirtschaftliche Situation zu. Die vordergründig gute Vermögenslage dürfe dennoch nicht zu falscher Planung verleiten, warnte Moder, denn die niedrigen Aufwendungen des zurückliegenden Haushaltsjahrs erklärten sich fast ausschließlich durch eingesparte Reise- und Tagungsausgaben während der Pandemie.

Tierärztemangel allerorten

Dem allenthalben zunehmenden Tierarztmangel auf dem Land und in abgelegenen Gegenden hatte FVE-Präsident Dr. Rens van Dobbenburgh einen umfassenden eigenen Tagesordnungspunkt gewidmet. Beispiele kann inzwischen praktisch jede Delegation nennen, auch die Gäste aus den USA und Kanada beleuchteten ihre Probleme und Lösungsansätze. Dabei wird immer klarer: Der „Fachkräftemangel“ hat sich in Wahrheit längst zum umfassenden Arbeitskräftemangel gewandelt – und das längst nicht nur in ländlichen Regionen. Es fehlen nicht mehr bloß qualifizierte Bewerber für offene Stellen, sondern generell Kandidaten.

Ehrung für ehemaligen Geschäftsführer

Eine gelungene Überraschung hatte der Vorstand für den ehemaligen Geschäftsführer der FVE arrangiert, den Niederländer Dr. Jan Vaarten. Unerwartet für ihn und die Versammlung erhielt er aus der Hand des niederländischen Botschafters in Großbritannien, Karel van Oosterom, den „Orde van Oranje- Nassau“ (Orden von Oranien-Nassau), den der niederländische König an Menschen mit besonderen Verdiensten um Gesellschaft und Gemeinwesen verleiht. Vaartens rein virtuelle Verabschiedung war in eine Hochphase der Pandemie gefallen und damit kläglich unpersönlich geraten. Die hohe Ehrung mochte dies nun ein wenig ausgleichen.

Positionspapiere zum Tierwohl verabschiedet

Estelle Hamelin von der Weltorganisation für Tiergesundheit (OIE) berichtete den Delegierten z. B. über die weltweiten Herausforderungen im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Tierkrankheiten. Wie immer standen zudem zahlreiche Tierwohlthemen auf der Agenda. So ging es um Wildtiere, Geflügel- und Kaninchenhaltung, Ausbildung und Verhalten. Die Delegierten verabschiedeten außerdem zwei Positionspapiere. Mit dem ersten bezieht die FVE eine klare Position zu Tierwohlkennzeichen. Das zweite Positionspapier behandelt Tiertransporte und fordert ein möglichst einheitliches EU-weites System ein. Alle Positionspapiere sind hier abrufbar.

Andere Tagesordnungspunkte betrafen Fragen von Lebensmittelsicherheit und Nachhaltigkeit, des Umgangs mit Investoren(-ketten), der Aus- und Weiterbildung, Informationen über Projekte der FVE sowie Bemühungen des Berufsstands rund um psychische Gesundheit, Vielfalt, Gleichberechtigung und die Einbeziehung von Minderheiten. Der ehemalige FVEGeschäftsführer Vaarten betreut weiterhin das EU-Projekt „Avant“ (Alternatives to Veterinary Antimicrobials), das als Teil von „Horizon2020“ Alternativen zu antimikrobiellen Mitteln in der Tiermedizin auslotet. Er gab dazu einen Lagebericht ab.

Weitere Gastredner waren die Präsidentin der British Veterinary Association, Justine Shotton, mit ihrem Vortrag „Verantwortungsvoller Einsatz von Antiparasitika bei Katzen und Hunden“ sowie Fergus Allerton, ein europäischer Spezialist für Innere Medizin bei Kleintieren am Willows Veterinary Centre, der über das ENOVAT-Projekt der Europäischen Union zur Entwicklung nachhaltiger antimikrobieller Behandlungsleitlinien referierte.

Die Herbstdelegiertenversammlungen sollen in Präsenz im November auf Malta stattfinden.

Datenschutzhinweis

Diese Webseite nutzt externe Komponenten, wie z.B. Youtube-Videos, welche dazu genutzt werden können, Daten über Ihr Verhalten zu sammeln. Datenschutzinformationen